0237 Gundelsheim:
Flüchtlingshaus in Gundelsheim


Ort
Gundelsheim
Planung / Realisierung
2016-2017
Leistungsphasen
LPH 1-4, teil. LPH 5
Bauherr
Gemeinde Gundelsheim
Größe
--
Bausumme
--
Architekt
Muck Petzet Architekten
Team
Muck Petzet
Birgit Müller, Irene Tassinari
Susanna Bier, Jakob Eden, Simona Luppi, Julia Pickel
Bauleitung/ LPH 5-8
Dal Fabbro Raumimpulse
Renderings
© Bloom Images


Schaut auf dieses Dorf!
Alle reden über die Stadt, dabei entscheidet sich unsere Zukunft auch auf dem Land: Zum Beispiel in Gundelsheim

Alle schauen auf die Stadt. Es gibt fast mehr Theorien zur Zukunft der großen Städte als nennenswerte neue Bauten dort. Währenddessen versuchen Politiker und Planer, die wahren Probleme der Stadt, die steigenden Mietpreise, die Flüchtlingssituation, an den Rändern der Ballungsräume oder gleich außer Sichtweite auf dem Land zu lösen. Sigmar Gabriel zum Beispiel trat schon früh dafür ein, die Flüchtlinge zwangsweise auf dem Land, in den Dörfern unterzubringen, damit in den Großstädten keine Gettos entstünden. Aber was passiert eigentlich auf dem Land? Wer bestimmt dort, was gebaut wird, wer dort wo wohnt?
Wenn man vom Land überhaupt etwas hört, sind es Schreckensgeschichten von Zersiedlung und überschuldeten Einfamilienhausbesitzern, Pendlerstaus und Leerstand, von angezündeten Flüchtlingsheimen, Arbeitslosigkeit und der AfD. Dabei sind diese Geschichten nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber man muss schon ein wenig genauer hinschauen, um zu sehen, dass in Wirklichkeit auf dem Land sehr viel passiert - vielleicht sogar Interessanteres und Grundlegenderes als in den Städten. Fahren wir also einmal raus aus der Stadt, tief ins Land, ins bayerische Gundelsheim.
Dort steht der Architekt Muck Petzet auf der Straße, vor einem leeren Haus, in dem einmal ein kleiner Supermarkt war. Den gibt es jetzt nicht mehr. „So ein leeres Geschäft mitten im Zentrum tut der Seele weh", sagt Petzet. Rund um einen großen Tisch sitzen mehr Männer als Frauen. Sie haben sich in der ehemaligen Schleckerfiliale versammelt, weil der dynamische junge Bürgermeister von Gundelsheim, Jonas Merzbacher, sie - Handwerker, Bäcker, Ingenieure aus der Region Oberfranken - darum gebeten hat.
Viele haben die Arme vor der Brust verschränkt und schauen etwas bedrückt auf die Pläne, die der Architekt aus München mitgebracht hat. Seine Powerpoint-Präsentation wird auf eine mobile, ausrollbare Leinwand gebeamt. Bis Mitte 2012 wurden hier, in der Hauptstraße 7, noch Shampoos und Waschmittel verkauft. Im Anschluss täuschte in Mittwochs-Café über das Ende des Drogeriekonzerns Schlecker hinweg. Aber der improvisierte Kaffee-und-Kuchen-Verkauf überstand das überteuerte Mietverhältnis mit dem Eigentümer nicht. Deshalb muss jetzt die wichtige Frage diskutiert werden, was mit dem Leerstand in Gundelsheim geschehen soll.
Knapp dreitausend Menschen leben rund um den Leitenbach, einem Nebenfluss des Mains, überwiegend in bunt gestrichenen Einfamilienhäusern mit hübsch und ordentlich angelegten Gärten. An einer der Zufahrtsstraßen aus Bamberg wehen Deutschlandflaggen im Wind, Jesus Christus ruht auf einer Verkehrsinsel an einem Kreuz. Auf der Hauptstraße gibt es: Metzgerei, Apotheke, Friseursalon Manuela Zeis, Sparkasse, Blumenladen, Supermarkt und die leere Schleckerfiliale. Auch die oberen Stockwerke des großen Gebäudes sin unbewohnt, der Schuppen und die Garage im Garten drohen zu verfallen. Eine Studie, die der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WBGU gerade herausgegeben hat, beschreibt in dramatischen Worten die Folgen der Landflucht, die in den kommenden Jahren zwei bis drei Milliarden Menschen weltweit in die Städte treiben und sehr viel mehr verlassene Häuser zurücklassen wird. Die Gemeinde Gundelsheim aber befürchtet nicht, dass mit der Pleite von Bauernhöfen und Industrieunternehmen der Einwohnernachwuchs schwindet. Das Dorf hat andere Sorgen.
Seit ein paar Monaten gehören zu der Gemeinde Familien und Jungs ohne Familien aus Syrien. Die sogenannten „unbegleiteten Jugendlichen" schlafen in der Bibliothek auf der anderen Seite des Leitenbachs. Im Herbst vergangenen Jahres wurde sie ausgeräumt und in das Rathaus verlegt. „Wohnraum und Arbeitsplätze für anerkannte Flüchtlinge müssen auf Dauer geschaffen werden", weiß der Bürgermeister Jonas Merzbacher. Deshalb hat die Gemeinde das Haus in der Hauptstraße gekauft. Den berühmten Architekten aus München, der vor vier Jahren den Deutschen Pavillon für die Architektur-Biennale in Venedig kuratierte, ein zweites Büro in Berlin hat und nun im dunklem Architektenanzug geduldig mit am Tisch sitzt, hat die Oberste Baubehörde im Bayrischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr empfohlen. Sie waltet über ein „Sonderprogramm im Rahmen des Wohnungspakt Bayerns“ mit dem Titel „Leerstand nutzen - Lebensraum schaffen“ und subventioniert „im ländlichen Raum positive Beispiel für das Gesamtkonzept mit Schwerpunkt Einbindung anerkannter Flüchtlinge“.
Es ist vielleicht eines der wichtigsten und zukunftsträchtigsten Programme, die es zurzeit in diesem Feld gibt, wie überhaupt diese Behörde sich von den vielen überforderten Bürokraten des Bauens wohltuend unterscheidet: Was da in München versucht wird, ist wirklich Politik im emphatischen Sinn des Wortes, es ist optimistische Zukunftsgestaltung statt depressiver Mängelverwaltung.
Die Sanierung der Wohnungen in dem leeren Gundelsheimer Haus basiert auf „sparsamen Maßnahmen“: Der Schleckermarkt soll aufgestockt werden, der zukünftige Betrieb über eine überdachte Terrasse, eine Art kollektive Loggia mit Ausblick auf den Fluss verfügen. Einziehen soll ein Koch, 28 Jahre alt, aus Syrien, dessen Familie in Jordanien aufgehalten wurde, und den in Gundelsheim alle Kamal nennen, ohne genau zu wissen, wie sich das schreibt. Er bereitet schon jetzt regelmäßig Humus, gefüllte Weinblätter, frittiertes Gemüse, Fleisch und Fladenbrot für Feste vor. Es soll ein Restaurant und ein Café geben, einen Lieferservice, der die umliegenden Kindergärten und Schulen versorgt und sogar Senioren aus dem Altersheim abholt, damit sie in der Hauptstraße gemeinsam mit den anderen Bewohnern und ihren Kindern zu Mittag essen können.
Ist das Sozialromantik - oder eine echte Chance? Es gibt ein altes Buch, das heißt „Grazie mille. Wie die Italiener unser Leben verschönert haben“. Es feiert die italienischen Gastarbeiter, die in den fünfziger Jahren das graue, depressive Nachkriegsdeutschland zum Leuchten brachten. Kann sich so etwas wiederholen - die Reaktivierung, Belebung aussterbender Landstriche durch Neuankommende? Deutsch-arabische Feste statt Leerstand und Stille? Die Voraussetzungen will die Oberste Baubehörde und das Sonderprogramm „Leerstand nutzen – Lebensraum schaffen“ unbedingt schaffen. Auf dem Papier wirkt das etwas ausgedacht. Man nehme Leerstand auf dem Land plus anerkannte Flüchtlinge plus Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und heraus kommt eine fröhliche multikulturelle Gemeinschaft, die auch noch der anderen Landflucht entgegenwirkt? Geht das wirklich so? Andererseits: Warum nicht?
Vor der Bibliothek stehen drei Jungs. Zwei kommen aus Syrien, der dritte aus Afghanistan. Sie heißen alle Mohammed und finden das auch witzig. Sie hängen mit ihren Freundinnen herum, die sie hier kennengelernt haben und meistens draußen am Bach oder bei der Schule sehen. Sie nehmen Sprachunterricht und besuchen die Berufsschule. Sie sprechen ziemlich gut Deutsch und verstehen sogar den irrwitzigen fränkischen Dialekt.
Der dynamische junge Bürgermeister, den alle duzen, weil er schon mit Mitte zwanzig ins Amt gewählt wurde, schlägt Hip-Hop-mäßig mit ihnen auf der Straße ein. „Sie spielen im Fußballverein“, erzählt er und witzelt, „jetzt ist der sogar erfolgreich“. Auf Gundelsheim haben Mohammed, Mohammed und Mohammed trotzdem keine Lust. Sie sind 17 Jahre alt und warten auf den nächsten Geburtstag, damit sie endlich von Erziehern wegkönnen, die ihnen das Rauchen verbieten. Doch das neue Integrationsgesetz spricht auch anerkannten Flüchtlingen das Grundrecht auf Freizügigkeit ab. Im Rahmen der Wohnungsauflage entscheidet das Land über den Wohnsitz. Die drei Jungs wissen noch nichts darüber.
Der Koch dagegen kann es kaum erwarten einzuziehen. Er wird zwar die Küche Bayerns studieren müssen – „Nur so fremde Speisen gehen ja auch nicht.“ –, aber für die Themenwoche „Syrien“ bleibt er Experte. Mal sehen, ob, wenn das Haus erst renoviert ist und hinten auch die Werkstätten aufmachen, die drei Mohammeds nicht doch anfangen, hier sesshaft werden zu wollen.

Antie Stahl
Feuilleton FAZ
11.02.2016



Impressum:

Muck Petzet Architekten

Architekt BDA Dipl.-Ing. Muck Petzet
Landwehrstrasse 37
D - 80336 München
E-Mail: sekretariat(at)muck-petzet.com

Der Architekt Muck Petzet ist Mitglied
der Bayerischen Architektenkammer,
Waisenhausstraße 4, 80637 München
Mitgliedsnummern: 172838. Hinweise
zum bayerischen Architektengesetz und
der Berufsordnung sind einsehbar unter
www.byak.de

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